Martin Jaeggi im Gespräch mit Linda Herzog

MARTIN JAEGGI  Wo liegen die Anfänge von Mihriban?
LINDA HERZOG   Am Anfang stand die Entscheidung, nach Istanbul zu ziehen. 1983 war ich zum ersten Mal dort. Dann wieder 2002, zusammen mit einem Freund, der Türkisch sprach. Damals hat mich Istanbul richtig gepackt. Ich musste herausfinden, was hinter dieser Stadt steckt. Mein erstes Buch, Birmingham İstanbul Zürich, war ein erster Ausdruck dieser Faszination.

MJ  Was zog dich an?
LH  Istanbul ist eine sehr große Stadt in einem sehr großen Land. Auf der Oberfläche scheint alles vertraut, doch auf einer zweiten oder dritten Ebene blickt man nicht mehr durch. Wenn man sich die Nachbarländer der Türkei ansieht, erkennt man, dass sich in der Türkei sehr vieles überlagert. Die Türkei ist der Schnittpunkt verschiedener Kulturkreise, die mich interessieren.
Einer dieser Nachbarn ist Griechenland, das schon länger Mitglied der EU ist. Die gesellschaftlichen Entwicklungen, die dort stattgefunden haben, sind selbst im westlichen Teil der Türkei noch nicht vollzogen worden.
Auch spürt man den Einfluss von Bulgarien, Georgien und von Armenien, alles ehemalige kommunistische Staaten. Die Umwälzungen, die dort in den letzten fünfzehn Jahren stattgefunden haben, wirken sich unmittelbar auf die Türkei aus. Politisch brisant ist auch die Nachbarschaft zu Iran und Irak. Syrien hingegen ist mehr auf Israel ausgerichtet. Aber all dies prallt in der Türkei aufeinander.
Ursprünglich wollte ich entlang der Grenzen der Türkei reisen und fotografieren, eine ganz einfache Grundidee, die ich allerdings aus praktischen wie inhaltlichen Gründen verwarf. Die Grenzen zum Irak und Iran schienen mir zu gefährlich, die Küstenstriche nicht interessant genug. Anfangs hatte ich angenommen, dass alles verhältnismäßig einfach sei, wie in einem westlichen Land, in dem man herumreist. Fremd sein aber ist nie einfach. Die Sprache zu lernen war sehr zeitaufwändig. Und als Frau allein all die Dinge auszukundschaften, war auch nicht einfach, obwohl ich auf meinen Reisen von den Leuten vor Ort Unterstützung erhielt. Wenn es die Situation verlangte, blieb ich sogar bis zu einem Monat an ein und demselben Ort.

MJ  Wohin genau bist du gereist?
LH  Ich war im Osten, an der Schwarzmeerküste und in Istanbul; in Izmir im Westen, aber auch in Zentralanatolien bis hin zum Mittelmeer. Afyon im zentralen Westen beispielsweise habe ich besucht, weil es eine der konservativsten Städte der Türkei ist.

MJ  Wie hat sich das Konzept des Buches während der Arbeit verändert?
LH  Anfänglich war ich sehr fasziniert von Robert Franks The Americans, von der Idee, einfach ein Land zu bereisen, es mit der Kamera zu erforschen und zu erfassen. Doch dann merkte ich, dass ich allzu vieles in der Türkei nicht verstand. Als ich schließlich nach eineinhalb Jahren die türkische Sprache leidlich beherrschte, begriff ich, dass die Türkei in mancher Hinsicht nach gänzlich anderen Strukturen als den mir vertrauten funktioniert, in einem Maß, das ich nicht erwartet hatte.

MJ  Wieso muss man etwas verstehen, um es zu fotografieren? Und inwiefern verändern sich Bilder dadurch?
LH  Mit größerem Wissen und Erfahrungshorizont beginnt man, anders zu sehen. Mit der Zeit wurde ich Teil des Alltags dort. Dinge, die früher fremd waren, wurden vertraut, verloren den Reiz des Exotischen.

MJ  Wie hat sich deine Art, Bilder zu machen, während deines Aufenthaltes verändert?
LH  Das Wichtigste war, dass ich irgendwann einmal meine Angst verloren habe. Mit der Kamera auf der Straße zu stehen, das muss man üben. Um etwas formal gut zu lösen und gute Bilder zu schaffen, braucht man eine gewisse Nähe - oder aber Distanz -, die man einschätzen können muss.
Lange war mein Blick überdies durch Bilder der Türkei geprägt, die ich aus der Schweiz kannte. Im Laufe der Zeit - ich verbrachte etwa zweieinhalb Jahre in der Türkei - lösten sich diese Bilder auf. Wenn dieser Filter wegfällt, lässt du dich auf die Begebenheiten ein, du vergleichst sie nicht ständig mit fremden Bildern. Ich beobachtete, und wenn ich etwas Interessantes wahrnahm, ging es nur noch darum, wie ich dies nun in einem Bild auf den Punkt bringen konnte, mein eigenes Bild entwickelte.

MJ  Ein Reisebericht in der Manier von Robert Frank ist Mihriban nun doch nicht geworden. Wie würdest du dein Buch einordnen?
LH  Es zeigt, wie ich eine Wirklichkeit erforschte, die über die Zeit zu meiner eigenen wurde. Ich würde es als gut recherchierte visuelle Analyse einer mir zunehmend vertrauter werdenden Kultur bezeichnen. Ich wollte die Bilder im Buch aber nicht zu einer subjektiven Narrative fügen, sondern zeigen, was die Türkei ist oder sein könnte. Manche Bilder sind eher objektiv, andere näher dran. Es findet ein Spiel mit Nähe und Distanz statt, und trotzdem drehen sie sich immer um die selbe Wirklichkeit.
Mihriban ist ebenso Dokumentarfotografie wie das Zeugnis eines Prozesses, den ich als wesenhaft künstlerisch bezeichnen würde. Es ist die künstlerische Erforschung einer Wirklichkeit, ein Forschen über Wirklichkeit und ein Forschen über Bilder.

MJ  Welche fotografischen Einflüsse waren wichtig bei dieser Arbeit?
LH  Mein Vorbild ist die japanische Fotografie der 1960er Jahre - Takuma Nakahira -, weil diese Fotografen die Grenzen der Fotografie zu überschreiten versuchten. Sie wollten in einer sehr brisanten Zeit fotografisch neue Wege gehen. Das hat mich stark beeinflusst, allerdings nicht auf der Ebene der Oberflächenästhetik, sondern als Haltung, als Wille zur Inhaltlichkeit.

MJ  Das führt zu der Frage der Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie. Wie hast du diese während der Arbeit an Mihriban erlebt?
LH  Die Grenzen der Fotografie sind gesetzt. Fotografie kann nur Oberfläche zeigen, aber nicht, was sich dahinter verbirgt - die größeren Zusammenhänge. Darum ist Fotografieren in komplexen Zusammenhängen sehr schwierig. Fotografieren ist oft ein Lernen auf der Straße. Selbst in einer sehr angespannten Situation muss man begreifen können, was eigentlich vor sich geht. Wenn vier Panzer und eine Gruppe von aufgebrachten Jungs vor deinem Objektiv stehen und einen Konflikt austragen, musst du in der Lage sein, zu erfassen, wofür sie stehen, obwohl du eigentlich lieber wegrennen würdest.

MJ  Das bedingt eine extreme Distanzierung von Gefühlen.
LH  Die Kamera federte meine oft aufgewühlten und sehr angespannten Gefühle ab. Ohne die Kamera wäre ich auf diesen Reisen verloren gewesen. Mit der Kamera alleine auf der Straße exponiert man sich sehr.
Es ist etwas ganz anderes, wenn eine Frau eine Kamera benutzt, als wenn dies ein Mann tut, selbst in Zürich. Dadurch, dass du eine Kamera hast, bist du in einer Machtposition, du bist diejenige, die etwas auslöst, du nimmst Bilder mit. Oft sieht man sich dabei gerade als Frau mit einem extremen Misstrauen konfrontiert. Einerseits wirst du nicht ernst genommen - das ist der Idealfall, denn dann geschieht dir nichts. Auf der Straße wollte ich, dass man mich nicht ernst nimmt ...

MJ  Was geschah aber, wenn dich jemand ernst nahm?
LH  Dann spürte ich eine Bedrohung, die sich zwar nicht in Handgreiflichkeiten entlud, aber als Abwehrhaltung wahrnehmbar blieb. Du machst etwas, das dir nicht zusteht. Sie können dich nicht einordnen.
Diese Konfrontation soll auf den Bildern nicht spürbar sein. Was ich als Fotografin erlebe, hinter der Kamera, möchte ich nicht direkt sichtbar machen in den Bildern, es ist eine andere Ebene; oder aber ich werde bewusst Teil der Situation, dann ist es etwas anderes. Du musst immer wissen, was du willst. Für diese Klarheit der Bilder musste ich hart arbeiten.

MJ  Was hoffst du, beim Betrachter mit Mihriban auszulösen?
LH  Ich hoffe, dass eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Aspekten der Türkei stattfinden kann und die Betrachter einen nüchternen Blick dafür entwickeln. Ich will Bilder machen, in denen man auf eine Entdeckungsreise gehen kann.